Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg

Was essen und trinken die Menschen in Berlin – und wie kann sich die Stadt künftig klimafreundlich und sozial gerecht ernähren?

Im neu erschienen Buch "Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg" vom Ernährungsrat Berlin wird der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg ein Kapitel gewidmet.

Hier könnt Ihr das ganze Buch kostenlos herunterladen: Berlin isst anders (ernaehrungsrat-berlin.de)

Eine Druckversion kann zum Solidaritätspreis von 20,30 Euro über epubli bestellt werden. Zudem ist das Buch im Buchandel erhältlich.

Hier der Auszug über die Regionalwert AG Berlin-Brandenburg:

"Teil II: Zutaten für die Ernährungswende

Regionalwert AG – eine außergewöhnliche Aktiengesellschaft

Bei Aktiengesellschaften denken die meisten Leute an Konzerne und nicht an einen kleinteiligen Bio-Verbund. Doch die Regionalwert AG Berlin-Brandenburg ist genau das: Sie hat schon 1,3 Millionen Euro in zehn Öko-Betriebe investiert. Das reicht vom Bauernhof über Obst- und Gemüseverarbeiter bis hin zum Dorfladen. 774 Bürger*innen haben bereits Aktien im Wert von mindestens 500 Euro erworben. Schon bald soll es eine weitere Kapitalerhebung geben, denn das Interesse auf Seiten der Betriebe an der Regionalwert AG als Investorin ist groß.

Initiator der Berlin-Brandenburger Bürgeraktiengesellschaft ist Timo Kaphengst. Früher hat der gelernte Landschaftsökologe wissenschaftliche Studien darüber geschrieben, was im Landwirtschaftsbereich alles schief läuft. Eines seiner Themen war Landgrabbing, also der Trend, dass Investoren überall auf der Welt Äcker und Felder kaufen, um dort Nahrungs- und Energiepflanzen für den Export anzubauen oder mit dem Boden zu spekulieren. Dass es auch in Brandenburg einen Wettlauf um Agrarland gibt, wurde Kaphengst erst vor ein paar Jahren bei einer Veranstaltung in Chorin klar. Dort traf er einen jungen Biobauern, der mit vier Hektar angefangen hatte und keine Möglichkeit fand, weitere Flächen zu pachten oder zu kaufen. Und der Leiter des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin erzählte, dass er ein Vorkaufsrecht für freiwerdende Flächen habe, sie aber aufgrund der inzwischen horrenden Bodenpreise nicht sichern kann. „Das war für mich ein Schlüsselerlebnis“, berichtet Kaphengst.

Der umtriebige Mann begann zu recherchieren. Dabei stieß er auf das Konzept der Regionalwert AG, das der Bio-Gärtnermeister Christian Hiß aus Freiburg entwickelt hat. Dessen Betrieb produziert 70 verschiedene Gemüsesorten, macht selbst Saatgut, und eine Kuhherde liefert nicht nur Milch und Fleisch, sondern auch Dünger. Solch eine Landwirtschaft ist unter den gegenwärtigen Bedingungen jedoch immer weniger konkurrenzfähig. Schließlich wird auch Biogemüse inzwischen häufig in Monokulturen angebaut – und das ist viel billiger, weil dabei große Maschinen zum Einsatz kommen.

Weil Hiß aber seine Art des Wirtschaftens richtig findet und sie nicht aufgeben wollte, grübelte er über eine Lösung. Durch ein Fernstudium an einer britischen Hochschule kam er auf die Idee, eine Aktiengesellschaft zu gründen und als Anteilseigner Menschen zu gewinnen, denen ebenfalls eine ökologische Landwirtschaft am Herzen liegt. Deren Geld investiert die Regionalwert AG nun langfristig in die ganze Wertschöpfungskette vom Acker bis zum Restaurant und Bioladen.

Weil die Partnerbetriebe gezielt ausgewählt werden und möglichst viele Längs- und Querverbindungen untereinander entwickeln, stützen sie sich gegenseitig. In der jährlichen Bilanz stehen nicht nur die wirtschaftlichen Zahlen, sondern auch Informationen über die angebaute Vielfalt, den Ressourcenverbrauch oder das Lohnniveau in den Betrieben. Der Plan ging auf: Schon seit 15 Jahren funktioniert das Modell in Freiburg und ist dabei ständig gewachsen. Als Netzwerk unterschiedlicher Betriebe schafft es die AG, im heutigen System eine Landwirtschaft zu betreiben, die hohe ökologische und soziale Gewinne bringt. Inzwischen gibt es in Deutschland mehrere Nachahmer. 2018 startete die Regionalwert AG Berlin-Brandenburg.

„Viele junge Landwirtschaftsbetriebe haben Probleme, an Geld zu bekommen“, berichtet Kaphengst. Aus Sicht der Banken ist der Investitionsbedarf meist zu gering, als dass es sich lohnen würde, einen Kreditberater damit zu beschäftigen. Dagegen seien Förderprogramme in der Regel viel zu bürokratisch und orientierten sich nicht am realen Bedarf der Betriebe, sondern es wimmele nur so von Einschränkungen und Ausschlussgründen. Schon sprachlich wirkten sie abschreckend. Ein eindrucksvoller Beleg dafür ist die „Richtlinie des Ministeriums für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Landwirtschaft über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung im Bereich der Marktstrukturverbesserung.“ Deren Bandwurmsätze sind mit Verweisen gespickt und für Menschen außerhalb der Amtsstuben kaum verständlich. Auch deshalb werde bereitstehendes Geld häufig nicht abgerufen – obwohl es im Prinzip dringend gebraucht wird und die Landesregierung die Betriebe ja durchaus unterstützen will.

„Es liegt nicht an den Personen, dass vieles hakt, sondern an den Strukturen. Da sind systemische Veränderungen nötig“, ist Kaphengst überzeugt. Um wirklich Rückenwind zu organisieren, müssten Förderprogramme passgenau für den realen Bedarf konstruiert werden, statt den Geförderten strenge und zum Teil praxisferne Vorgaben aufzuzwingen. „Das kann nur gelingen, wenn ganz am Anfang Gespräche mit potenziellen Antragstellern stattfinden und es vor der Veröffentlichung des Förderprogramms noch mehrere Rückkopplungsschleifen gibt“, so der Geschäftsführer der Regionalwert AG.

Eine weitere Schwierigkeit für kleine Landwirtschaftsbetriebe ist die Vermarktung. „Wie kommt das Ei nach Berlin?“, bringt Mitgeschäftsführer Jochen Fritz das Problem auf den Punkt. Der Nebenerwerbslandwirt hat außer einer Wasserbüffelherde auch 400 glückliche Zweinutzungshühner, die in Werder nachts in mobilen Ställen und tagsüber draußen leben. Ihre Eier zu den Verkaufsstellen in die Berliner Innenstadt zu bringen, ist immer ein großer Zeitaufwand. Deshalb unterstützt die Regionalwert AG ihre Partnerbetriebe dabei, ihre Produktströme zu bündeln und untereinander günstige Abnehmerstrukturen zu schaffen.

Damit das gelingt, sind viele Gespräche und gemeinsame Überlegungen nötig. „Wenn Biobetriebe ein überzeugendes Konzept haben, wollen wir sie unterstützen – finanziell, aber auch informell“, so Fritz. Entscheidend sei, dass es auch menschlich passt. Schließlich gehe es der Regionalwert AG um langfristige Partnerschaften und auch um ein Gemeinschaftsgefühl.

Während die beiden Vorstände in der Anfangszeit vor allem auf Anfragen von Bio-Betrieben reagiert haben, überlegen sie nun, gezielt Lücken in den Wertschöpfungsketten zu schließen. Dabei sprechen sie auch konventionelle Bauern an, die gerne umstellen wollen. Schließlich möchte beispielsweise der Biosuppenhersteller „Wünsch Dir Mahl“ aus Müncheberg seine Zutaten am liebsten aus der Region beziehen – doch bisher gelingt das bestenfalls zu 20 Prozent. Dass es Interesse der Kundschaft an regionalen Bio-Suppen gibt, belegte ein Testlauf im Herbst 2020 in verschiedenen Berliner Supermärkten. Auch die MostManufaktur Havelland in Ketzür findet längst nicht so viel Obst in der Umgebung, wie sie gerne verarbeiten würde. Ebenfalls ein deutlich spürbarer Mangel herrscht an kleinen, mobilen Schlachtereien, berichtet Kaphengst.

Um fehlende Glieder in den Wertschöpfungsketten aufzubauen, hält die Regionalwert AG auch Kontakt zur Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde und beteiligt sich an praxisnahen Forschungsprojekten. Doch sich um all das zu kümmern, ist zeitaufwändig – und bisher arbeiten nur drei Menschen in der Regionalwert AG.

„Wir verstehen unsere Aufgabe darin zu zeigen, wie Alternativen aussehen und dass sie funktionieren“, fasst Kaphengst zusammen. Die Bürger*innen-Aktiengesellschaft sei ein Zahnrad in einem Verbund, der den regionalen Wertschöpfungskreisläufen in Berlin-Brandenburg Schwung geben soll. Dass die Regionalwert AG von einem Großinvestor gekapert werden kann, ist ausgeschlossen: Anders als bei normalen Aktiengesellschaften kann hier niemand mehr als 20 Prozent der Stimmanteile bekommen.